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Die Poetik (griechisch ποιητική [τέχνη] - die Schaffende, Dichtende [Kunst]) des Aristoteles beschäftigt sich mit der Dichtkunst und ihren Gattungen. Aristoteles gliedert die Wissenschaften in drei große Gruppen (theoretische, praktische, poietische), wobei die Poetik einen Bereich des poietischen, hervorbringenden Teil des menschlichen Wissens in deskriptiver und präskriptiver Weise thematisiert. In den Bereich der aristotelischen Poetik fallen zunächst alle diejenigen ‚Künste’, die mimetischen, d.h. nachahmenden bzw. darstellenden Charakter besitzen: Epik, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung, aber auch Tanz und Musik. Im Verlauf des Werkes zeigt sich aber, dass Aristoteles fast ausschließlich ‚Dichtung’ behandelt u. dass ein Unterscheidungskriterium auch Teilhabe an Sprache voraussetzt. Aristoteles' Poetik steht im Zusammenhang mit seiner Rhetorik, insofern beide Sprache und den Umgang mit dieser thematisieren, außerdem mit seiner Politik, insofern der Gegenstand der Poetik gesellschaftliche Funktion in der polis hat.
Der Aufbau – Übersicht Die Poetik ist vermutlich unvollständig überliefert, denn Aristoteles verweist auf nicht vorliegende Abschnitte über die Komödie und den Dithyrambus. Diese wurden möglicherweise in einem nicht erhaltenen zweiten Buch der Poetik behandelt (das eine prominente Rolle in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose spielt). Die Kapitel des erhaltenen (ersten) Buchs ordnen sich thematisch zu drei größeren Abschnitten: (1-5) Zur Dichtung allgemein (6-22) Behandlung der Tragödie (23-26) Behandlung des Epos Zur Dichtung allgemein Die Definition von poiêsis: mimêsis Alle Dichtung ist mimêsis, Nachahmung. Hierbei setzt Aristoteles sich von dem gängigen Kriterium „Versmaß“ ab: somit fallen etwa Platons Dialoge durchaus in die Dichtung, die metrische Gattung des Lehrgedichts fällt hingegen heraus. Nachgeahmt werden hierbei handelnden Menschen. Dabei meint mimêsis nicht eine Abbildung in dem Sinne, dass das Abbild einem Urbild entspräche. Vielmehr besteht mimêsis in einer Darstellung von handelnden Menschen, deren Absichten, Charakter und Handlungen sowohl zum Besseren als auch zum Schlechteren abweichen kann. Ableitung der mimêsis aus der Natur des Menschen Den für die Poetik zentralen Begriff der mimêsis leitet Aristoteles auch aus der Natur des Menschen ab. Anthropologische Herleitung: (a) (Produktion) Die Nachahmung ist den Menschen angeboren. (b) (Rezeption) Die (Erfahrung von) Nachahmung bereitet Menschen (im Gegensatz zu anderen Lebewesen) Freude (chairein) (Prozess intellektuellen Erkennens, Freude an technischer Perfektion) Der zweite Punkt, die Freude an der Wahrnehmung von Nachahmung, ist ein Hinweis darauf, dass für Aristoteles der Aufbau und Inhalt eines Werkes im Hinblick auf den Rezipienten entworfen wird, wie sich auch am Katharsis-Begriff zeigt (s.u.). Die Arten der mimêsis: Zur Gattungseinteilung Die Arten von mimêsis spezifiziert Aristoteles genauer und zieht sie zur Gattungseinteilungen heran: Kriterien für Arten der Mimesis:
Die Tragödie Definition der Tragödie Aristoteles definiert die Tragödie wie folgt: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je einzeln angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Mitleid (eleos) und Furcht(phobos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ (Poetik 6, 1449b24ff.) Diese Definition gibt eine nähere Beschreibung der von einer Tragödie geleisteten mimêsis:
Die sechs Teile der Tragödie Aristoteles unterscheidet sechs qualitative Teile der Tragödie:
Von diesen sechs Teilen nimmt in Aristoteles' Darstellung die Handlung den weitaus größten Raum ein und ist für ihn auch der wichtigste Teil: Aristoteles nennt den Mythos die „Seele“ der Tragödie. Anhand dieses Übergewichts der Handlung gegenüber der sprachlichen Form (lexis) lässt sich Aristoteles' Poetik schwerpunktmäßig eher als Struktur- denn als Stilpoetik bezeichnen. Der mythos (die Handlung) Der wichtigste qualitative Teil der Tragödie ist die Handlung (der mythos, vgl. Mythos). „Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und Lebenswirklichkeit (praxeôn kai biou).“ (Poetik, 1450a16f.) Der Dichter hat sich für Erstellung und Form der Handlung also in erster Linie nicht nach der Identität des Helden, sondern nach dem Gehalt der darzustellenden Handlung zu richten. „Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse (ta pragmata) und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel ist aber das Wichtigste von Allem.“ (Poetik, 1450a21ff.) Ganzheit und Einheit der Handlung Die wichtigsten Kriterien für einen guten Handlungsaufbau sind Ganzheit und Einheit. Sie sind genau dann gegeben, wenn alle in behandelten mythos vorkommenden Elemente (a) nicht fehlen dürfen (Ganzheit) und (b) notwendig an ihrer jeweiligen Stelle innerhalb des mythos auftreten müssen (Einheit). Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit der Handlung Kriterium dafür, dass eine Handlung bzw. ein Handlungsverlauf zur Darstellung kommt, ist nicht, dass sie wirklich stattgefunden hat, sondern dass sie allgemeinen Charakter besitzt. Nach Aristoteles ist es nicht Aufgabe des Dichters, „mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (eikos) oder Notwendigkeit (anankaion) Mögliche.“ Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit spezifizieren also die mimêsis der Tragödie und ihren Bezug zur Wirklichkeit genauer. Aufgrund dessen zeigt sich auch, warum Aristoteles die Dichtung hochschätzt: Weil der Dichter mitteilt, „was geschehen könnte“, „ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“ Was macht eine gute Tragödie aus? Aristoteles erklärt, dass Tragödien, die gewisse Momente aufweisen, bzw. gewisse Momente auf bestimmte Art u. Weise verwenden, besser sind als andere. Der wichtigste Bereich ist hier wiederum der Handlungsaufbau bzw. -verlauf (mythos).
Auf keinen Fall darf man dagegen zeigen:
Weitere wichtige Kriterien beziehen sich – in weiter gefasstem Sinne – auf den Handlungsaufbau, den Wendepunkt und die Beschaffenheit der Charaktere. Hinsichtlich der Charaktere ist es laut Aristoteles am besten, dass sie die entscheidende Tat zwar ohne Einsicht ausführen, aber Einsicht erlangen, nachdem sie die Tat ausgeführt haben (wie das Oidipus in der Tragödie des Sophokles geschieht). Hinter diesen Unterscheidungen für eine bessere bzw. schlechtere Tragödie zeigt sich (a) das ethische Kriterium der Darstellung eines sittlich guten Menschen und (b) das Kriterium der Darstellung einer Handlung, die bei der Rezeption des Stoffes (und nicht nur des aufgeführten Stückes) „Mitleid und Furcht“, eleos und phobos hervorruft. Das Epos Das Epos ähnelt der Tragödie wegen des gemeinsamen Gegenstandes, da auch das Epos sittlich gute Figuren darstellt bzw. darstellen soll. Diese Ähnlichkeit hat einen hohen Stellenwert, und da in der Folge im Tragödienteil oftmals epische Beispiele vorkommen, zeigt wiederum die Wichtigkeit der Rezeption. Das Epos unterscheidet sich von der Tragödie in folgenden Punkten:
Das Epos ist nach Aristoteles der Tragödie in zwei Punkten unterlegen:
Zusammenfassende Charakterisierung Indem Aristoteles in der Poetik immer wieder Beispiele aus Dramen und Epen bespricht und mittels seines Begriffsinstrumentariums analysiert, verbindet er eine Analyse des Gegebenen mit der Formulierung verbindlicher Regeln (beispielsweise in der Aufstellung der Rangfolge von Tragödienarten) und der Hervorhebung entscheidender Elemente (z.B. dass der Held einer Tragödie möglichst keine Einsicht in die Handlungen haben soll, bevor er sie ausführt). Die aristotelische Poetik verbindet also deskriptive und präskriptive Elemente. Da Aristoteles die Handlung, den mythos in den Vordergrund sowohl seiner Analyse als auch hinsichtlich der Bedeutung des Kerns einer Dichtung stellt – also mittels der Nachahmung dessen, was aufgrund von Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen könnte, nämlich das Allgemeine im menschlichen Handeln zu zeigen –, erweist sich seine Poetik eher als Struktur- denn als Stilpoetik. Dichtung hat nach Aristoteles einen Zweck. Jede Dichtung ist auf den Rezipienten ausgerichtet. Zum einen zeigt sich dies darin, dass die Handlung und die handelnden Charaktere in ihrer sittlichen Qualität am Rezipienten ausgerichtet sind: d.h. der so genannte ‚mittlere Mann’ weist als Charakter in etwa die sittlichen Eigenschaften auf, die auch die angestrebten Rezipienten aufweisen. Das wichtigste Ziel der Dichtung besteht also in ihrer Wirkung. Dies zeigt sich vor allem darin, dass Aristoteles die Rangfolge verschiedener Tragödien daran misst, inwiefern sie dazu geeignet sind, beim Zuschauer eleos und phobos hervorzurufen. Modern ausgedrückt, kann man also sagen, dass die aristotelische Poetik Rezeptionsästhetik ist. (Damit ist hier allerdings nur die prinzipielle Zuschauerzentriertheit gemeint, kein Eingehen auf die konkrete Psychologie konkreter einzelner Zuschauer, da die Poetik stets recht abstrakt von „dem“ idealisierten Zuschauer spricht, der offenbar immer gleich reagiert.) Literatur Textausgaben Aristoteles: Poetik. (Griechisch/deutsch). Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Reclam Verlag, Stuttgart 1994 Zu Aristoteles
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