Dialektik

Dialektik (griechisch διαλεκτική (τέχνη), dialektiké (téchne), eigentlich: "Kunst der Unterredung"; gleichbedeutend zu lateinisch (ars) dialectica: "(Kunst der) Gesprächsführung") ist ein Begriff der Philosophie. Er ist der Logik und der Rhetorik verwandt.

Dialektik ist eine sehr alte Form der Wahrheitsfindung. Widersprüchliche Meinungen werden miteinander verknüpft, um derart zu einer weiterführenden Aussage mit höherem Wahrheitsgehalt zu gelangen, so dass die Widersprüche aufgehoben werden. Dabei können sogar Dialektische Grundgesetze aufgestellt werden.

Bedeutung bekam die Dialektik in der Philosophie besonders

  • bei Heraklit, Platon, Aristoteles und in der Scholastik;
  • bei Kant, Fichte, Schelling und Hegel;
  • bei Karl Marx und im dialektischen Materialismus;
  • bei Adorno und in der Frankfurter Schule.

Formen der Dialektik

Heraklit

Als erster Dialektiker gilt Heraklit, von dem Hegel später viel übernommen hat.

Der Logos, also das Prinzip der Welt, besteht für Heraklit im Streit ("polemos"), der der "Vater aller Dinge" ist. Die sich ständig wandelnde Welt ist geprägt von einem Kampf der Gegensätze, vom ewigen Widerspruch der Polaritäten. Im Gegensatz zeigt sich eine tieferliegende, "verborgene" Einheit, ein Zusammengehören des Verschiedenen.


Platon

Zum ersten Mal findet sich der Terminus "Dialektik" bei Platon. Die eindeutige Klärung des Begriffs stellt sich bis heute als schwierig dar, da bereits in Platons Dialogen mindestens drei verschiedene Dialektikbegriffe kursieren. In seiner frühen Philosophie bezeichnet er damit lediglich eine bestimmte Form der Gesprächsführung, bekannt als sokratischer Dialog.

Diese Dialoge werden als Prototyp für die platonische Dialektik angesehen: Sokrates stellt eine ungeprüfte Meinung eines Proponenten (dessen Namen meistens der Dialog als Titel trägt) auf den Kopf bzw. widerlegt sie. Oft enden diese Gespräche in einer Aporie (griechisch aporia - Ausweglosigkeit), d.h. nach dem dialektischen Gespräch ist nur bewiesen, dass die alte These zu verwerfen ist, aber eine neue ist dadurch (noch) nicht gefunden.

Später entwickelt Platon Dialektik zu einer Methode, mit der in der Philosophie Wissen über die Ideen zu erlangen sei. Er unterscheidet drei Verfahren: im einzelnen sind das der Elenchos, das Hypothesis-Verfahren und das Dihairesis-Verfahren.


Von Aristoteles bis zur Scholastik

Von Aristoteles liegt die erste schriftlich ausgearbeite Dialektik vor, die sich in seiner Topik findet. Dialektik ist eine methodische Argumentationsanleitung die er folgendermaßen charakterisiert:

ein Verfahren, aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen (endoxa) zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen.“ (Top. I, 1, 100a 18 ff.)

Boethius knüpft an die Topik von Aristoteles und Cicero an und entwickelt aus den locus besondere Maximen des Argumentierens. Berengar von Tours, William of Shyreswood und Petrus Hispanus entwickeln weitere Ansätze.


Die transzendentale Dialektik bei Kant

Kant entwickelte eine transzendentale Dialektik: Sie beginnt mit einer Logik des Scheins. Das sind die erklärbaren - aber nicht auflösbaren - kosmologischen Widersprüche, in die sich die reine Vernunft verwickelt, wenn sie nach dem Übersinnlichen fragt: Was war vor dem Anfang der Welt? usw. Diese natürliche Dialektik wird kritisch einer transzendentalen Vernunftkritik unterzogen, mit der die "endlosen Streitigkeiten der Metaphysik" beendet werden sollen.


Zwischen Kant und Hegel

Das Verständnis der Dialektik, so wie es durch Kant gewonnen wurde, bezeichneten einige spätere Philosophen als abgeschlossen, z.B. Schopenhauer. Andere hingegen gingen davon aus, daß Kants Auffassung der Dialektik noch fehlerhaft gewesen sei und weiterentwickelt werden muss. So entstanden die dialektischen Ansätze von Karl Klemens Serol, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, bevor es zur besonderen Blüte der Dialektik bei Hegel kam.


Zum Ansatz der Dialektik bei Hegel

Die Dialektik ist nach Hegel die Anstrengung des denkenden Subjekts über sich selbst hinauszugehen[1].

  1. Der Verstand, das endliche Subjekt, setzt eine These[2].
  2. Die dialektische Vernunft entäußert sich, indem eine Antithese sich der ursprünglichen Setzung als Objekt gegenüberstellt und damit verneint. Es entsteht so ein Widerspruch. Die begrifflichen Gegensätze wie Subjekt und Objekt (Subjekt-Objekt-Spaltung), Endlichkeit und Unendlichkeit widersprechen und negieren einander[3].
  3. Die spekulative Vernunft bewirkt das Zusammentreten von Spruch und Widerspruch in der „höheren“ Vereinigung der Widersprüche, die dadurch aufgehoben werden[4]. Dialektik ist an und für sich die Vereinigung der Gegensätze im Prozess.

Bei Hegel wird die Dialektik zu einer Geschichtsphilosophie. Auch insofern geht er über Kant hinaus. Für Hegel haben sich Vernunft, Wahrheit, Selbstbewusstsein erst in einem geschichtlichen Prozess zu realisieren.


Zum Ansatz der materialistischen Dialektik

Karl Marx übernimmt die Dialektik Hegels, kehrt sie aber um und deutet sie materialistisch als Theorie und Methode der Kritik politischer Ökonomie. Es beginnt die Arbeit (Marxismus) an einem wissenschaftlichen Sozialismus.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist nunmehr die Basis für den "Gang der Sache selbst". Nicht die Entwicklung der Begriffe oder des Geistes sind die Bestimmung der Wirklichkeit, sondern die faktische Befriedigung der ökonomisch benennbaren Bedürfnisse.

Die materialistische Dialektik bei Marx, Engels wird später grundlegender Bestandteil der kommunistischen Philosophie des historischen und dialektischen Materialismus. Es wird betont, die dialektischen Gesetze existierten unabhängig vom Bewusstsein. Mit ihrer Hilfe könne die Welt erklärt werden und ihr Wirken sei in vielen Bereichen nachweisbar. Eine Leugnung der Dialektik gilt hier gleichzeitig als Leugnung der Erkennbarkeit der Welt.


Dialektiker der Frankfurter Schule

Als Hauptwerk der Frankfurter Schule gilt die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfasste Essay-Sammlung Dialektik der Aufklärung.

Adorno entwickelte eine Negative Dialektik. Es geht um eine Kritik am theoretischen Abschluss der Philosophie zu einem System. Philosophiehistorische Grundüberlegungen sind ein gesellschaftskritisches Korrelat.

Nach Horkheimers und Adornos Tod wurden vor allem Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel und Oskar Negt für die Frankfurter Schule repräsentativ. In dieser Jüngeren Kritischen Theorie wurde eine Diskursethik ausgearbeitet.


Kritik

Die dialektische Vorgehensweise ist oft kritisiert worden. Schon Schopenhauer sprach abschätzig von Hegelei. Seit Kierkegaard ist eine Protesthaltung gegen das System der Dialektik einschlägig (Existenzphilosophie). Auch der dialektische Materialismus war besonders in der politischen Diskussion des 20. Jahrhunderts heftig umstritten. Es trat insbesondere die Frage auf, wieso sich die ökonomische Gesellschaft zwangsläufig als Klassenkampf darstellt, der sich fortschreitend entwickelt.

Die analytische Philosophie kritisierte allererst die dialektische Sprache, die sich aus Sicht der Sprachkritik nach der linguistischen Wende nicht an die Standards der Logik zu halten scheint. Man kann sogar sagen, dass die Feindseligkeit gegen oder Empfänglichkeit für Dialektik eines der Dinge ist, welche im 20. Jahrhundert die Anglo-Amerikanische Philosophie von der sogenannten Kontinentalen Tradition spaltet, eine Kluft, die nur wenige gegenwärtige Philosophen (darunter Richard Rorty) gewagt haben zu überbrücken.

Ein Philosoph, der das Konzept der Dialektik immer wieder angegriffen hat, ist Karl Popper. 1937 schrieb und veröffentlichte er den Artikel "What Is Dialectic" (übersetzt ins Deutsche als "Was ist Dialektik?"), worin er die dialektische Methode für ihre Bereitwilligkeit attackierte, sich mit Widersprüchen abzufinden. Popper schloss den Aufsatz mit den Worten: "Die ganze Entwicklung der Dialektik sollte als Warnung dienen gegen die dem philosophischen Systembau inhärenten Gefahren. Sie sollte uns daran erinnern, dass die Philosophie nicht zur Grundlage für irgendwelche Arten wissenschaftlicher Systeme gemacht werden darf...". Später behauptete[5] Popper, dass Hegels Denken zu einem gewissen Grad verantwortlich für die Erleichterung des Aufstiegs des Faschismus in Europa ist, indem es zum Irrationalismus ermutigt und versucht ihn zu rechtfertigen. Im Abschnitt 17 seines Nachtrags von 1961 zur Offenen Gesellschaft, im englischen Original betitelt "Facts, Standards, and Truth: A Further Criticism of Relativism", lehnte Popper es ab, seine Kritik an der Hegelschen Dialektik zu relativieren, er argumentierte, dass sie eine große Rolle beim Untergang der liberalen Bewegung in Deutschland (Weimarer Republik) gespielt hat, indem sie zum Historizismus und anderen totalitären Denkmoden beitrug und dass sie die traditionellen Standards der intellektionellen Verantwortung und Redlichkeit herabgesetzt habe.

In der Dialogphilosophie wird im Gegensatz zu Dialektik die Bedeutung des Du, des Anderen und des Fremden betont und vor der Autonomie eines Monismus gewarnt.


Literatur

  • R. Bubner: Zur Sache der Dialektik. Stuttgart 1980.
  • R. Bubner: Dialektik als Topik. Frankfurt 1990
  • J. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart 1992 (Beiträge zur Altertumskunde, Bd 9).
  • T. Pinkard: Hegel’s Dialectic. The Explanation of Possibility. Philadelphia 1988
  • K. Utz: Die Notwendigkeit der Zufalls. Hegels spekulative Dialektik in der "Wissenschaft der Logik". Paderborn 2001
  • Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 275 Seiten. Fischer, Frankfurt am Main 1969, ISBN 3-596-27404-4
  • Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. Frankfurt am Main 1963
  • Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966
  • Arthur Schopenhauer: Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten. Haffmans Verlag, Januar 2002
  • Karl R. Popper: Was ist Dialektik?. In: Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften 5, S. 262–290, (51968)
  • Karl R. Popper: Gegen die großen Worte. In: Auf der Suche nach einer besseren Welt. S. 99–113., Piper, München 1987
  • Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Karl Marx, Werke · Artikel · Entwürfe. März 1843 bis August 1844. (MEGA Bd.I.2). S.3-140, Berlin 1982. ISBN 3–05–003352–5
  • Dieter Wolf: Zum Verhaeltnis von dialektischem zu logischem Widerspruch (104 KB). In: Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg 2002, ISBN 3-87975-889-1

Frankfurt

Weblinks

Zur hegelschen Dialektik:

Der Begriff Dialektik im Kulturkritischen Lexikon

Quellen

  1. ↑ "Das Logische hat der Form nach drei Seiten: α) die abstrakte oder verständige, β) die dialektische oder negativ-vernünftige, γ) die spekulative oder positiv-vernünftige.", G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Näherer Begriff und Einteilung der Logik, § 79
  2. ↑ "α) Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstraktes gilt ihm als für sich bestehend und seiend.", G.W.F. Hegel: ebd., § 80
  3. ↑ "β) Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten.", G.W.F. Hegel: ebd., § 81
  4. ↑ "γ) Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist.", G.W.F. Hegel: ebd., § 82
  5. ↑ Kapitel 12 des zweiten Bandes von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Diese Auffassung wurde auch von einigen Philosophen als unberechtigt gesehen, siehe z.B. Walter Kaufmann: The Hegel Myth and Its Method. From Shakespeare to Existentialism: Studies in Poetry, Religion, and Philosophy (Boston: Beacon Press, 1959), S. 88–119

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