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Unter der griechischen Sprachfrage (griech. γλωσσικό ζήτημα, Kurzform: το γλωσσικό; auch griechische Sprachenfrage, griechischer Sprach[en]streit) versteht man die Auseinandersetzung um die Frage, ob die neugriechische Volkssprache (Dimotiki) oder die antikisierende Hochsprache (Katharevousa) offizielle und einheitliche Sprache der griechischen Nation sein solle. Sie wurde im 19. und 20. Jahrhundert ausgetragen und 1976 zugunsten der Volkssprache entschieden, die seitdem Amtssprache in Griechenland ist. „Niemand hat das Recht, zum Volk zu sagen: ‚Ich will, dass ihr so oder so sprecht'. Nur die Zeit, nicht Gewalt oder Gesetzgebung, kann die Sprache ändern.“ (Adamantios Korais)[1] Überblick Der Begriff der Sprachfrage wurde im 19. Jahrhundert in Analogie zur orientalischen Frage geschaffen[2]; während diese das bestimmende außenpolitische Thema Griechenlands im 19. und frühen 20. Jahrhundert war, bezeichnet die Sprachfrage die große innenpolitische Herausforderung des griechischen Staates über viele Jahrzehnte hinweg. Die grundsätzliche Divergenz zwischen zwei voneinander unabhängigen Varietäten in der griechischen Sprache existierte schon seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert. Brisant wurde das auch als griechische Diglossie bekannte Phänomen jedoch erst mit dem Erwachen des neugriechischen Nationalbewusstseins in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, mit dem Identitätsfragen und die geistige Wegbereitung der Staatsgründung einhergingen. Der griechische Sprachstreit erstreckte sich über einen Zeitraum von etwa 185 Jahren (vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1976) und prägte die Literatur, das Bildungswesen und das alltägliche öffentliche Leben in Griechenland entscheidend. Es handelt sich dabei wohlgemerkt nicht um eine rein akademische Debatte, sondern um eine ideologisch aufgeheizte und oftmals erbittert geführte Auseinandersetzung, deren Auswirkungen nahezu jeden Griechen direkt betrafen und die an ihrem Kulminationspunkt sogar Todesopfer forderte. Das komplementäre Begriffpaar Dimotiki und Katharevousa ist in einzelnen Schriften (Kodrikas 1818 bzw. Theotokis 1797) schon zu Beginn der Sprachfrage nachzuweisen, erfuhr jedoch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitere Verbreitung.[3] Der linguistische Hintergrund des Problems Während die Dimotiki die natürliche Muttersprache der Griechen war, stellte die Katharevousa eine künstliche Hochsprache dar, die zwar neugriechisch ausgesprochen wurde, sich aber grammatikalisch ans Altgriechische anlehnte und zahlreiche sprachliche Phänomene wieder einzuführen suchte, die die Volkssprache im Laufe der Zeit verloren hatte. Dazu zählen:
In der Gesamtheit bewirkten diese Unterschiede, dass die Katharevousa für den durchschnittlichen Griechen ohne höhere Bildung nicht oder nur teilweise verständlich war. Sie war zwar einerseits die für alle gültige Staats- und Unterrichtssprache, blieb aber andererseits de facto den gebildeten Kreisen vorbehalten und wurde daher zunehmend zu einem soziopolitischen Faktor, der die Gesellschaft spaltete. Beispiel zur Veranschaulichung der Diglossie Für jemanden, der selbst keine Griechischkenntnisse besitzt und in dessen Muttersprache (z. B. Deutsch) es kein mit der griechischen Diglossie vergleichbares Phänomen gibt[4], ist es schwer, die Motivation des griechischen Sprachstreits nachzuvollziehen. Denn es handelt sich bei Katharevousa und Dimotiki um die Koexistenz zweier – im extremen Fall – grundverschiedener Sprachformen, die über das in jeder Sprache existente stilistische Gefälle zwischen geschriebener und gesprochener Sprache weit hinausgeht. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, einen kurzen Katharevousa-Text und dessen Übertragung ins volkstümliche Neugriechisch in zweierlei Form im Deutschen wiederzugeben: Einmal in einer konstruierten, extrem gelehrten Hochsprache (als Pendant zur Katharevousa), und einmal in einfachem, gesprochenem Deutsch (als Pendant zur Dimotiki). Es handelt sich dabei um den schriftlichen Neujahrsglückwunsch eines Kindes an seine Eltern[5]: Katharevousa: „Πότνιοι γεννήτορες! ᾿Επὶ τῇ πρώτῃ τοῦ ἐνιαυτοῦ, ἀνάπλεως συγκινήσεως κι’ εὐγνωμοσύνης, ἀνθ’ ὧν πολλά τε μὲ ἠγαπήσατε, πολλά τε δ’ εὐ ἐποιήσατε, ἐπεύχομαι ὑμῖν ὑγείαν, εὐτυχίαν καὶ πᾶν τò καταθύμιον. ῎Ερρωσθε, ὁ ἐσαεὶ εὐγνώμων υἱός.“ Auf Griechisch gesprochen (OGG Datei ?) Sehr gehobenes und altertümliches Deutsch: „Hochverehrte Frau Mutter, hochverehrter Herr Vater! Anlässlich des ersten Tages in diesem neuen Jahre des Herrn, und eingedenk Ihrer unerschöpflichen Liebe mir gegenüber sowie Ihrer zahllosen guten Thaten, wünsche ich itzo, als schwächlichen Abglanz meiner Rührung und Dankbarkeit, Ihnen Wohlfahrt, Glück und alles erquicklich Opportune. So wallet ewiglich in Wohlergehen, Ihr auf immer dankbarer Herr Sohn.“ Dimotiki: „Αγαπημένοι μου μαμά και μπαμπά, με την ευκαιρία της πρωτοχρονιάς θα ήθελα να σας πω ότι είμαι πολύ ευτυχισμένος κι ευγνώμων που μ’ αγαπάτε τόσο πολύ και με φροντίζετε τόσο! Σας εύχομαι υγεία, ο,τι το καλύτερο και να είστε πάντα καλά και ευτυχισμένοι! Με αγάπη, ο γιός σας.“ Auf Griechisch gesprochen (OGG Datei ?) Einfaches Deutsch: „Liebe Mutti, lieber Vati, zum neuen Jahr möchte ich euch sagen, dass ich sehr froh und dankbar bin, dass ihr mich so liebhabt und mir so viel Gutes tut! Ich wünsche euch Gesundheit, Glück und alles, was ihr euch wünscht. In Liebe, euer Sohn.“ Aus diesem bewusst deutlich gewählten Beispiel wird ersichtlich, dass sowohl die Katharevousa als auch die Dimotiki Eigenschaften besitzen, die sie für bestimmte Texte geeignet oder deplaziert erscheinen lassen: Die Katharevousa hat das Potential, eine gehobene Atmosphäre, Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit zu erzeugen; die Dimotiki dagegen ist die natürliche, gesprochene Volkssprache und eignet sich daher per se für eine ungezwungene, mündliche, aber auch einfache schriftliche, „schnörkellose“ Kommunikation. Die Tatsache, dass die diglosse Situation in Griechenland jahrhundertelang nicht als Problem wahrgenommen wurde, zeigt, dass eine Koexistenz zweier Sprachformen, die sich auf je eigene Verwendungsbereiche beschränken, nicht unbedingt fatal sein muss. Erst als von einem der beiden sprachlichen Standpunkte aus begonnen wurde, den anderen zu diskreditieren und bestimmte sprachliche Vorstellungen gegenüber anderen gewaltsam (z. B. mittels Staatsgewalt) durchzusetzen, entwickelte sich das sprachliche Phänomen zu einem gesellschaftlichen Problem. Historische Entwicklung Frühe Entstehung der Diglossie Bereits im ersten Jahrhundert vor Christus[6] zeichnete sich im griechischsprachigen Raum die Entstehung zweier unterschiedlicher Schreibstile ab: Während auf der einen Seite die alexandrinische Koine die sich natürlich entwickelnde, volkstümliche griechische Muttersprache war, begannen manche Gelehrte, die sogenannten Attizisten, in ihren Schriften das attische Griechisch der klassischen Zeit nachzuahmen. Dieses wurde mit den zahlreichen Errungenschaften des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Philosophie, Staatskunst und anderen Bereichen assoziiert und galt als edel, wohingegen die einfache Sprache des Volkes, die innerhalb weniger Jahrhunderte große phonetische, morphologische und syntaktische Änderungen durchgemacht hatte und sich bereits deutlich vom Altgriechischen (genauer vom attischen Dialekt des Altgriechischen) unterschied, in gelehrten Kreisen zunehmend als vulgär und nicht schriftwürdig empfunden wurde. Dies führte jedoch zunächst zu keinen Auseinandersetzungen, da die offizielle Sprache des Staates[7] immer geregelt war und nicht angezweifelt wurde. Obwohl sich also das Auseinanderdriften von Volks- und Hochsprache zu einer dauerhaften Diglossie verhärtete, akzeptierte man diesen Zustand jahrhundertelang stillschweigend, da es allenfalls ein Problem des literarischen Ausdrucks gab, jedoch keine Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens. Während die Volkssprache gesprochen und geschrieben wurde, beschränkte sich die am attischen Ideal orientierte Hochsprache auf den schriftlichen Gebrauch der wenigen Gelehrten.[8] Die griechische Aufklärung Im 17. Jahrhundert wurden erste vereinzelte Stimmen laut, die die Koexistenz zweier unterschiedlicher griechischer Sprachvarietäten problematisierten und eine der beiden kritisierten[9]. Ein tatsächlicher Diskurs setzte jedoch erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein, als Eugenios Voulgaris (1716–1806), Lambros Photiadis, St. Kommitas und N. Dukas als Vertreter eines gelehrten Sprachstils, und Voulgaris' Schüler Iosipos Moisiodax (1725–1800) und Dimitrios Katartzis (ca. 1725-1807) als Befürworter einer einfacheren Sprache ihre Ansichten vertraten. Auch Rigas Velestinlis (1757–1798), Athanasios Psalidas (1767–1829) sowie die Dichter Ioannis Vilaras (1771–1823) und Athanasios Christopoulos (1772–1847) votierten für die Sprache des Volkes. Die griechischen Aufklärer machten sich in jener Zeit (1765–1820)[10] grundsätzliche Gedanken über Abstammung und Identität des neugriechischen Volkes und sahen sich auch mit der praktischen Frage konfrontiert, in welcher Sprache die Aufklärung der Nation vonstatten gehen könne oder müsse. Längerfristig liefen diese Gedanken auf die Überlegung hinaus, welche die einheitliche Sprache des noch zu gründenden neugriechischen Staates sein solle.[11] Korais und der „Mittelweg“ „Wir schreiben für unsere griechischen Landsleute von heute, nicht für unsere toten Vorfahren.“ (Adamantios Korais)[12] Den entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung übte Adamantios Korais (1748–1833) aus, der prinzipiell auf Seiten der Volkssprache stand, diese jedoch von den zahlreichen fremdsprachlichen Einflüssen (wie türkischen Fremdwörtern) und besonders „vulgären“ Elementen reinigen wollte. Korais, der in K. Kumas, N. Vamvas, Th. Pharmakidis und anderen eine Reihe von Mitstreitern hatte, glaubte auf diesem „Mittelweg“ (μέση οδός, 1804) zwischen der rein volkstümlichen und der streng am altgriechischen Ideal orientierten Denkweise das Problem lösen zu können und ging als Erfinder der Katharevousa (wörtlich: die Reine [Sprache]) in die griechische Sprachgeschichte ein. Die neugriechische Staatsgründung Nach mehrjährigem Unabhängigkeitskrieg erfolgte 1830 die neugriechische Staatsgründung; Hauptstadt war zunächst Nauplion, ab 1834 Athen. Als offizielle Sprache des Staates setzte sich die Katharevousa durch, da man die wenig prestigeträchtige, „ungeschliffene“ Volkssprache für nicht geeignet hielt, den Anforderungen eines modernen Staates gerecht zu werden[13]; zudem wollte man durch das Etablieren einer gelehrten Hochsprache staatlich an den Glanz vergangener Zeiten anknüpfen. Ohnehin war die Volkssprache in den Zeiten der osmanischen Herrschaft zu einer rein mündlich tradierten und in Dialekte zersplitterten Sprache herabgesunken; die wenigen Gebildeten schrieben in der Hochsprache[14], weswegen diese die einzige war, die sich als offizielle Schriftsprache aufdrängte. Somit wurde die sich an die literarische Koine und die byzantinische Hochsprache anlehnende Katharevousa auf lange Zeit hin nicht nur als Amts-, sondern auch als Unterrichtssprache in Griechenland etabliert, was zur Folge hatte, dass sich Kinder in der Schule nicht mehr ungezwungen in ihrer Muttersprache äußern durften. Auch den Erwachsenen ohne höhere Bildung wurde die Kommunikation mit staatlichen Institutionen wie Ämtern oder Gerichten erschwert, da alle schriftlichen Anträge und Dokumente in der Hochsprache abgefasst zu sein hatten und somit nur von bezahlten Schreibern aufgesetzt werden konnten. Die Hochzeit der Katharevousa Die Katharevousa-Bewegung verselbständigte und radikalisierte sich zunehmend, orientierte sich immer mehr an einem puristischen, reaktionären attizistischen Ideal und brachte unwissentlich sogar Formen hervor, die im Altgriechischen nie existierten; damit war der ursprünglich von Korais beschrittene Mittelweg verlassen und die Katharevousa unter Liberalen endgültig diskreditiert. Die Phanarioten, zu Zeiten des Osmanischen Reichs und des jungen griechischen Staates eine Art griechische Intelligenzija um das Patriarchat in Konstantinopel, waren eine Gruppe von konservativen, adeligen Gelehrten, die auf Seiten der antikisierenden Hochsprache standen und die wichtigsten Gegner der Volkssprache darstellten. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Panagiotis Kodrikas (1762?–1867), der eine extreme Linie vertrat und beispielsweise anstelle des volkssprachlichen Wortes ψάρι (Fisch) das rein altgriechische ἰχθύς forderte, während Korais noch die spätantike Form ὀψάριον vorgeschlagen hatte.[16] Panagiotis Soutsos, der in einer zunehmend altertümlichen Hochsprache dichtete und die griechische Romantik entscheidend mitprägte, entstammte wie sein Bruder Alexandros ebenfalls der phanariotischen Tradition und proklamierte 1853 sogar die Wiederentstehung der altgriechischen Sprache.[17] Auch die Schriften von Athanasios Christopoulos (1772–1847) und Dionysios Solomos (1798–1857), die die Volkssprache verfochten, konnten nichts daran ändern, dass das halbe Jahrhundert nach der Staatsgründung, das Zeitalter der griechischen Romantik, zur Hochzeit der Katharevousa wurde, in der die Sprachfrage nur wenig diskutiert wurde und zahlreiche hochsprachliche Neologismen entstanden, welche die entsprechenden volkstümlichen Wörter ersetzen sollten, wie etwa γεώμηλον (wörtlich: Erdapfel) statt πατάτα (Kartoffel) oder ἀλεξιβρόχιον (wörtlich: Regenschirm) statt ομπρέλα (aus dem Italienischen übernommenes Wort für Regenschirm).[18] Zahlreiche dieser Neologismen sind inzwischen wieder verschwunden, viele andere sind heutzutage jedoch unangezweifelter Bestandteil der neugriechischen Sprache, zum Beispiel ταχυδρομείο (Post). Die radikalsten Ausprägungen des attizistischen Archaismus sind zeitlich in den 1850er Jahren und dann noch einmal um 1880 bei K. Kontos einzuordnen. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts konnte die Volkssprache einen leichten Prestigegewinn verzeichnen, da durch die Arbeiten der Historiographen Konstantinos Paparrigopoulos und Spiridon Zambelios die Frage nach der Kontinuität der griechischen Geschichte mehr in den Vordergrund gerückt und dadurch eine größere Würdigung neugriechischer Traditionen und Mundarten erreicht wurde.[19] Mit der Beteiligung zweier berühmter Sprachwissenschaftler, Giannis Psycharis (1854–1929) auf Seiten der Dimotiki und des Begründers der neugriechischen Sprachwissenschaft, Georgios Chatzidakis (1848–1941), auf Seiten der gelehrten Sprache, steuerte das griechische Sprachproblem allmählich auf seinen Höhepunkt zu. Der „sprachliche Bürgerkrieg“ um 1900 Psycharis' Manifest „Meine Reise" (Το ταξίδι μου, 1888) gab mit seinen radikalen, stark regularisierten Vorstellungen von der Volkssprache dem Demotizismus neuen Auftrieb, belebte die Diskussion der Sprachfrage und läutete drei Jahrzehnte der erbitterten, ja teilweise bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen um die Sprache in Griechenland ein. Der Streit hatte nun endgültig die Grenzen akademischer Streitschriften und gelehrter Studierstuben verlassen und nahm auch in der Öffentlichkeit immer größere Dimensionen an. Vertreter der Katharevousa beschimpften Demotizisten als „μαλλιαροί“ (Langhaarige), „ἀγελαῖοι“ (Herdentiere) und „χυδαϊσταί“ (Vulgärsprachler), während die Anhänger der Volkssprache ihre Widersacher umgekehrt als „γλωσσαμύντορες“ (Sprachverteidiger), „σκοταδιστές“ (etwa: in geistiger Finsternis Lebende), „ἀρχαιόπληκτοι“ (Altertümler), „μακαρονισταί“ (= Nachahmer eines übertrieben antikisierenden Sprachstils) oder „συντηρητικοί" (Reaktionäre, Konservative) bezeichneten.[20] Auch beschuldigten die hochsprachlichen Puristen die Demotizisten des Bolschewismus und einer panslawistischen Gesinnung, während sie sich selbst für die wahren Erben der griechischen Antike hielten.[21] Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Ausschreitungen, die als Reaktion auf die Übersetzung der Evangelien (1901) sowie der Übersetzung und Aufführung der Orestie (1903) in die neugriechische Volkssprache stattfanden und sogar Todesopfer sowie den Rücktritt der Regierung Theotokis zur Folge hatten.[22] Während die einen die Volkssprache als natürliche Nationalsprache in allen Bereichen etablieren wollten und sich als Vollzieher eines neugriechischen Emanzipations- und Mündigkeitsprozesses sahen, empörten sich die anderen über die Blasphemie und Dekadenz, die in ihren Augen die Übersetzung des Gotteswortes oder altehrwürdiger Tragödien in die vulgäre Sprache des Pöbels darstellte. Das Bildungssystem war nach wie vor in einem erschreckenden Zustand und völlig uneffektiv: Die Kinder hatten größte Schwierigkeiten, sich in der ihnen nicht vertrauten Hochsprache auszudrücken, und wurden somit in der Schule sprachlich nicht gefördert, sondern gehemmt.[23] Einzig die Mädchenschule von Volos ragt aus der tristen Bildungslandschaft in Griechenland am Beginn des 20. Jahrhunderts heraus: Der liberale Pädagoge Alexandros Delmouzos etablierte dort die Dimotiki als Unterrichtssprache und konnte Erfolge wie beispielsweise deutlich gesteigerte Leistungen und Freude am Lernen seitens der Schülerinnen erzielen. Konservativen und klerikalen Kreisen war eine solche liberale Vorgehensweise jedoch ein Dorn im Auge, und sie protestierten so massiv gegen die „modernen Sitten“ der Mädchenschule von Volos, dass die Schule geschlossen werden musste und Alexandros Delmouzos wegen Unsittlichkeit gerichtlich verurteilt wurde.[24] Die Sprachfrage nach dem Ersten Weltkrieg 1917 hatte die Dimotiki erstmals Einzug ins griechische Bildungssystem gehalten, als sie zur Unterrichtssprache der Volksschule erklärt wurde; in den folgenden Jahrzehnten wurde sie jedoch mehrmals zwischenzeitlich von der Katharevousa wieder zurückgedrängt.[29] Unverändert blieb die Situation dagegen bei höheren Schulen und überhaupt der ganzen staatlichen Verwaltung, den Gerichten, den Universitäten, der Armee und der Kirche, wo die Hochsprache nach wie vor die alleinige offizielle Sprache war. Erst allmählich gelang es der Dimotiki, auch abgesehen von den Grundschulen im staatlichen Bereich an Einfluss zu gewinnen, wofür der Sprachwissenschaftler Manolis Triantafyllidis (1883–1959) entscheidende Arbeit leistete. Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg der staatlichen Emanzipation der Volkssprache war Triantafyllidis' Grammatik des Neugriechischen (Νεοελληνική γραμματική [της δημοτικής], 1941), das auf Jahrzehnte hin als Standardwerk neugriechischer Sprachwissenschaft galt, in 14 Sprachen übersetzt wurde[30] und auch heute noch aufgelegt wird.[31] Das Ende des Sprachstreits
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1964 wurden von der Zentrumspartei in Griechenland erstmals beide Sprachen, Dimotiki und Katharevousa, zu gleichberechtigten Schulsprachen erklärt, doch verblieben höhere Bildungswege de facto nach wie vor unter dem ungebrochenen Einfluss der Hochsprache. Die Militärdiktatur (1967–1974) erklärte 1967 die Katharevousa schließlich noch einmal zur Amtssprache und drängte die Dimotiki wieder auf die ersten vier Schuljahre zurück.[32] Noch nach der Zeit der Militärdiktatur, 1975, enthielt die griechische Verfassung keinen Hinweis auf die offizielle Staatssprache;[33] erst am 30. April 1976 endete die Epoche des staatlichen Sprachpurismus in Griechenland endgültig, als die Regierung Karamanlis mit dem Bildungsminister Rallis die Dimotiki zur alleinigen Unterrichtssprache erhob, wenige Monate später noch ein Rundschreiben über den Gebrauch der Dimotiki in allen öffentlichen Verlautbarungen und Dokumenten nachlegte und damit das Ende einer jahrhundertealten Diglossie einläutete. Der Gesetzestext zur Etablierung der Volkssprache wurde allerdings bezeichnenderweise noch in Katharevousa abgefasst.[34] 1982 wurde auch noch die polytonische Rechtschreibung abgeschafft und das monotonische System, das nur noch einen Akzent kennt, als für die Schulen verbindlich festgelegt.[35] Heute ist die Volkssprache die Amtssprache Griechenlands (sowie Zyperns und der Europäischen Union), allerdings haben zahlreiche lexikalische, grammatikalische und phonetische Elemente der Katharevousa Eingang in die Alltagssprache gefunden und die Dimotiki auf eine nunmehr unproblematische Art und Weise bereichert. Der Sprachstreit wurde zugunsten der Volkssprache entschieden und spielt heutzutage in Griechenland keine Rolle mehr; allerdings verwendet die Griechisch-Orthodoxe Kirche in offiziellen Dokumenten und in der Liturgie nach wie vor die Hochsprache und erkennt volkssprachliche Übersetzungen der Bibel nicht als offiziell an. Besuchern des Mönchsstaats Athos wird nach wie vor eine Aufenthaltserlaubnis ausgehändigt, die in extremer Katharevousa abgefasst ist. Darüber hinaus gibt es auch in unserer Zeit noch Universitätsprofessoren, die ihre Vorlesungen in Katharevousa halten und hochsprachlich abgefasste Arbeiten der Studenten besonders loben.[36] Die Sprachfrage in der Literatur Es überrascht nicht, dass sich zahlreiche Literaten implizit oder explizit in ihren Schriften zur griechischen Sprachfrage äußerten; waren sie doch von sprachlichen Statusfragen und rigider staatlicher Sprachpolitik betroffen und in ihrem Schaffen unmittelbar beeinflusst. Die parallel zum Sprachstreit stattfindende literarische Entwicklung in Griechenland lässt sich natürlich nicht als von der Politik vollkommen abgekoppeltes System beschreiben, doch verdienen es einige literaturgeschichtliche Aspekte, gesondert dargestellt zu werden: Athener und Ionische Schule Nach der Staatsgründung 1830 lassen sich über mehrere Jahrzehnte zwei große, unterschiedliche Linien in der griechischen Literaturlandschaft erkennen: Einerseits die Athener Schule (Athener Romantik) um Panagiotis und Alexandros Soutsos, die stark von den Phanarioten in Konstantinopel beeinflusst wurde, in der neuen Hauptstadt Athen zentriert war und weitgehend das reinsprachliche und neoklassizistische Gepräge des jungen Staates ab den 1840er Jahren auch in der Literatur vermittelte; andererseits die Ionische Schule der heptanesischen Dichter um Dionysios Solomos und Aristotelis Valaoritis, die ihren lokalen, volkssprachlichen Dialekt als Schriftsprache pflegten und deren Heimatinseln zunächst noch nicht dem neugriechischen Staat angehörten[37] und daher auch nicht dem geistigen Sog der Hauptstadt Athen ausgesetzt waren. Letztere – wie zum Beispiel der Nationaldichter Solomos (dessen Hymne an die Freiheit zur griechischen Nationalhymne erhoben wurde) – zählen heute zu den wichtigsten neugriechischen Lyrikern, während die Vertreter der Athener Schule einen nicht annähernd so großen literaturwissenschaftlichen Status genießen. Im 19. Jahrhundert behielt allerdings die Katharevousa als offizielle Literatursprache in Griechenland zunächst die Oberhand. Die Dichterwettbewerbe von 1851 bis 1870 ließen nur die Katharevousa als einzige Sprache der Lyrik zu.[38] Interessant ist auch der sprachliche Wandel, den einige Schriftsteller der Athener Schule wie Panagiotis Soutsos oder Alexandros Rizos Rangavis vollzogen: Sie begannen mit der Dimotiki und endeten in der strengen archaischen Form.[39] Sprachsatiren Einige Schriftsteller parodierten die Sprachfrage auch in ihren Werken, indem sie etwa Figuren mit extrem antikisierender und völlig überzeichneter Ausdrucksweise Vertretern des einfachsten Volkes gegenüberstellten. Berühmte Satiren mit Bezug zur Sprachfrage sind aus der Zeit der griechischen Aufklärung beispielsweise Der Traum (Το όνειρο, Autor nicht geklärt), Der gelehrte Reisende (Ο λογιότατος ταξιδιώτης von Ioannis Vilaras, veröffentlicht 1827) oder die Komödie Korakistika (Τα κορακίστικα von Giakovakis Rizos Neroulos 1813).[40] Doch auch viel später, als sich die Dimotiki schon allmählich zu emanzipieren begann, nahmen Literaten auf satirische Weise Bezug zum Sprachproblem. So beispielsweise Georgios Vizyinos, der in seinem Werk „Διατί η μηλιά δεν έγεινε μηλέα“[41] (1885) ironisch davon berichtet, wie er als kleiner Schuljunge in Anwesenheit seines Lehrers nicht das „normale“ Wort für Apfelbaum (μηλιά) verwenden durfte, sondern zur entsprechenden Katharevousa-Form (μηλέα) gezwungen und bei Zuwiderhandlung geschlagen wurde. Auch Pavlos Nirvanas äußerte sich in seiner „Γλωσσική αυτοβιογραφία“[42] (Sprachliche Autobiographie, 1905), bei der wie bei Vizyinos das Verhältnis des echt autobiographischen und des fiktiven Anteils unklar ist, satirisch zum Sprachproblem, indem er in Ich-Erzählung den Werdegang eines jungen Mannes beschreibt, der immer mehr der Faszination der Hochsprache erliegt und zum extrem attikisierenden Gelehrten aufsteigt. Auch wenn seine gelehrten Reden nur von wenigen verstanden werden, so wird er doch ob seiner Ausdrucksfähigkeiten bewundert, und erst die Begegnung mit einigen schönen Mädchen aus dem Volk lassen ihn an seinem sprachlichen Weltbild zweifeln, denn statt ῥῖνες, ὄμματα, ὦτα und χεῖρες (im Deutschen etwa: Häupter, Antlitze, Gesichtserker …)[43] sieht er im Geiste plötzlich nur noch ihre zarten μύτες, μάτια, αυτιά und χέρια (ganz „natürliche“ Nasen, Augen, Ohren und Hände), und wendet sich in der Folge vom Wahn der Hochsprache ab. Der Sieg der Volkssprache in der Literatur Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandten sich immer mehr Schriftsteller der Volkssprache zu, und besonders seit der Generation von 1880 war der Siegeszug der Volkssprache in der Literatur nicht mehr aufzuhalten. Während Prosawerke zunächst noch in Katharevousa, aber mit Dialogen in Dimotiki geschrieben wurden[44], konnte man in der Lyrik bald nur noch ernstgenommen werden, wenn man sich von der zwar technisch-wissenschaftlich kreativen, aber lyrisch schwachen, verknöcherten Katharevousa[45] lossagte. Vor allem Kostis Palamas fällt eine führende Rolle bei der Etablierung der Volkssprache in der Lyrik zu. Nahezu das gesamte literarische Schaffen im Griechenland des 20. Jahrhunderts erfolgte schließlich in der Volkssprache, freilich mit mehr oder weniger stark ausgeprägten hochsprachlichen Einflüssen und Veredelungen. Resümee „Man sollte sich aber kein falsches Bild von der Situation machen, denn die Entwicklung des Griechischen im 20. Jh. (und insb. in seiner zweiten Hälfte) ist ein ausgezeichneter Beweis dafür, daß dieser Kampf um die Sprache Land und Gesellschaft im 19.-20. Jh. zwar Schaden zugefügt hat, aber gleichzeitig das Herauskommen aus einem mehrere Jahrhunderte währenden Zwiespalt erzwang; er beschleunigte einen Mündigkeitsprozeß, durch den die volkssprachliche Grundlage mit den hochsprachlichen Elementen schließlich zusammenwuchs, was zu einer 'Gemeinsprache' führte (Νεοελληνική κοινή/Standard Modern Greek), die vielleicht kraftvoller und ausdrucksstärker ist als je zuvor.“[46] Anmerkungen und Quellenangaben
Literatur
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